Die schweigende Stadt by Elisabeth Vonarburg

Autor:Elisabeth Vonarburg [Vonarburg, Elisabeth]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-10-11T16:00:00+00:00

7

Die große weiße Katze steht bewegungslos mitten im Garten und hat ihren Kopf in Elisas Richtung gedreht. Sie ist in der Haltung erstarrt, die sie gerade eingenommen hat, als Elisa ihre Haustür öffnete und das Tier überraschte. Es ist größer als eine Wildkatze, fast so groß wie ein Leopard, hat aber Kopf und Ohren eines Luchs. Falls Elisa ihrer Intuition im Umgang mit Tieren trauen kann, scheint die Katze keine Angst zu haben. Es ist das erstemal, daß Elisa jetzt einer solchen Katze in natura begegnet, obwohl die Ommachs im Wald schon oft auf welche gestoßen sind. Allerdings hat sie diese Tiere vor langer Zeit, als sie noch klein war, auf den Bildschirmen der STADT gesehen. Es war ein Experiment gewesen: Mario – wie hieß er doch gleich? – Mario Alghieri hatte sie, wenn sie sich recht erinnert, im Südwesten ausgesetzt. Konnten sie so weit in den Norden gewandert sein? War der Südwesten ihnen zu heiß?

Die große Katze reißt das Maul weit auf, gähnt und enthüllt dabei den rosig-schwarzen Gaumen. Dann setzt sie ihren Weg unbekümmert fort.

Elisa lacht über die anmutige Arroganz des Tiers. Trotzdem muß sie die Kinder warnen. Diese Katze sieht zwar nicht gerade heimtückisch aus, aber man kann nie wissen.

Sie betrachtet den Himmel und die Bäume, genießt die Stille und Kühle und merkt, wie sie Zufriedenheit erfüllt. Ein schöner Herbsttag. Die wohlvertraute Liste ihrer täglichen Pflichten geht ihr durch den Kopf. Frühstück. Die Kühe melken. Arbeit mit den Zwölf- und Dreizehnjährigen. Mit den Acht- und Neunjährigen die Kartoffelernte einbringen. Den ältesten Kindern, die Marmelade einkochen, mit Rat und Tat zur Seite stehen. Heute abend werden sie sich verwandeln. Kuchen backen. Allerdings wird es am besten sein, gar nicht viel Wirbel um diese Metamorphose zu machen. Im Lauf der Zeit wird ganz von selbst eine Zeremonie, ein Fest daraus werden. Ein Tag, der in regelmäßigen Abständen gefeiert wird. Soll sie die Metamorphose mit ihnen durchsprechen? Privat oder öffentlich, auf der Ratsversammlung? Immerhin ist es ihre letzte Verwandlung. Wenn sie einmal zwanzig Jahre alt sind, bleiben sie ›Männer auf Dauer‹.

Im Herbst sieht das Dorf zweifellos am schönsten aus. Der warme Glanz der Holzhäuser paßt hervorragend zu den rostfarbenen und gelben Blättern, die sich hell gegen den blauen Himmel abheben – eine letzte Explosion von Farben vor dem Winterschnee. Sieben Häuser, deren Holz mit den Jahren zu einem silbernen Grau verwittert ist. Mit halbem Lächeln sieht sie sich im Halbkreis um. Sie hat sich solche Mühe gegeben, das Dorf ganz anders als die STADT ZU gestalten, daß es fast wie eine Kulisse aus den alten Filmen wirkt, die sie sich als kleines Mädchen zusammen mit Desprats angesehen hat. Wie hatte er die Filme genannt? Western. Grobe Holzstämme, die Ritzen dazwischen sorgfältig abgedichtet. Ein erhöhtes Fundament, um das ganze Haus herum eine Terrasse. Innen derselbe Stil: glänzende Holzdielen, ein riesiger Ziegelsteinkamin, gegerbte Tierhäute und Pelze als Vorleger, rustikale Möbel, bei denen es ihr mehr auf Haltbarkeit als auf Schönheit angekommen war. Es gibt in der Außenwelt kaum eine Gemeinschaft, die in solchen Häusern lebt.

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